Der Jugendstil ist  nicht irgendeine kunstgeschichtliche Epoche. Er ist etwas Besonderes. 

Andere Stilrichtungen, die vor und nach der Jahrhundertwende prägend waren, nahmen Bezug auf frühere Kulturepochen – auf die griechische und römische Klassik, die Romanik, die Gotik, die Renaissance, auf Barock und Rokoko… Sie griffen auf bekannte Formen und Gestaltungsprinzipen zurück, machten sich historisch anerkannte Deutungsmuster und Ordnungsprinzipen zu eigen, konnten nachvollziehbar und belegsicher begründen, weshalb sie Vorbilder nutzten und kreativ variierten.

Ganz anders der Jugendstil: Er schrieb keine Traditionslinien fort, er brach mit ihnen. Der Jugendstil verstand sich als Wegbereiter einer Moderne, deren Ausdrucksmittel er Stück für Stück neu erfinden musste. Seine Flucht nach vorn aus dem Hort des Sicheren und Bewährten war ein Wagnis, ein Vorstoß in unbekanntes Gelände der Formgebung, in eine ungewohnte Ordnung voll wahrnehmbarer Bruchlinien. 

In Bezug auf die Architektur bedeute dies: 

Das Innenleben eines Gebäudes sollte sich in seinem Äußeren ausformen und deutlich zu erkennen geben, das Innere soll nicht hinter einer Fassade verschwinden, nicht von großen Gesten der Geschichtsanleihe verhüllt oder überhöht werden. 

So wie das Individuum von Wollen und Begehren, von Zweifeln und Hoffen, von wechselnden Bedürfnissen und Arbeitsvollzügen geprägt ist, so vielfältig sollte auch seine Behausung sein. 

Weitere Freiheiten nahm sich der Jugendstil heraus, indem er prägende Momente der Natur als architektonische Gestaltungsprinzipien nutzte – das Neben- und Miteinander von großen leeren Freiflächen und winzigen hochkomplexen Details, von floralen und kristallinen Strukturen, von Harmonien und Disharmonien.

Einzelne Künstlerhäuser und Villen wurden diesem elitären Anspruch – koste es, was es wolle – in vollem Umfang gerecht, doch bei Bauten, die preisgünstiger zu erstellen waren, griff man oft zur Serienanfertigung. 

Dies mochte einer der Ursprungsideen des Jugendstils zu widerlaufen – dem großen Reiz der von stilisiertem Blumenschmuck, elegischen Masken, strenger Grafik a la Macintosh, „Omega“-Einfassungen oder der Verschmelzung von Balkon und Erker ausgeht, tat dies keinen Abbruch.

Auch in anderer Hinsicht hat der Jugendstil Großartiges geschaffen.