Kurzbiographie

Henry Wirgin wurde am 16. Juli 1897 in Radom/Polen als Chaim Iziel Wirgin geboren. Später, nach dem Umzug der Familie nach Deutschland, der wahrscheinlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte, änderte er seinen Vornamen in Heinrich. 

Die erste Zeit lebte er in Frankfurt am Main. Hier, so heißt es in seiner Entschädigungsakte, hatte er zunächst „die Realschule der israelitischen Kultusgemeinde am Zoo“ besucht. Anschließend wechselte er „auf das Liebig-Oberrealgymnasium“. Dort bestand er zu Ostern 1917 das Abitur. Anschließend nahm er ein Medizin-Studium auf, das er allerdings nach vier Semestern abbrach. Danach ging er nach Wiesbaden. Gemeinsam mit seinem Bruder Josef eröffnete er dort im September 1920 die Firma „Gebrüder Wirgin“, die unter anderem mit optischen Apparaten und anderen technischen Gerätschaften für Laboratorien, Apotheken oder Krankenhäuser handelte. Im Laufe der 1920er Jahre verlagerte sich der Schwerpunkt der Firma „Gebrüder Wirgin“ vom Handel mit optischen Gerätschaften hin zur Produktion von Kameras. Damit verbunden war um 1929/30 auch ein Umzug des Unternehmens von der Schiersteiner Straße 9 in die Dotzheimer Straße 172.

Die von Wirgin produzierten Kameras verkauften sich – vor allem im Ausland – sehr gut. Die Firma, die diverse Modelle im Angebot hatte, florierte. 

Doch nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 verschlechterten sich die Bedingungen für die Firma zusehends. Ende Oktober 1938 wurde Henry Wirgin schließlich gezwungen, Deutschland zu verlassen. Aufgrund eines Beschlusses des Sejm, der polnischen Volksvertretung, vom 31. März 1938 sollten alle polnischen Staatsbürger jüdischen Glaubens, die länger als fünf Jahre außerhalb Polens gelebt hatten, die polnische Staatsangehörigkeit verlieren. Die nunmehr staatenlosen Juden durften sodann nicht mehr nach Polen einreisen. Die NS-Regierung befürchtete nun, dass die ehemals polnischen, fortan staatenlosen (polnischen) Juden dauerhaft in Deutschland bleiben würden. Daran aber hatte der deutsche Staat kein Interesse. Um sich der missliebigen Juden zu entledigen, schoben die deutschen Behörden eine Vielzahl polnischer Juden noch vor dem Inkrafttreten der Ungültigkeit ihrer Pässe im Zuge der sogenannten Polen-Aktion vom 28./29. Oktober 1938 nach Polen ab. Parallel dazu wurden sie enteignet. 

Hiervon betroffen waren auch Henry und seine Ehefrau Ester, die er 1935 in Wiesbaden geheiratet hatte. Wie Henry stammte sie aus Polen und war jüdischen Glaubens. Im Zuge der „Polenaktion“ verlor die Familie Wirgin ihre Kamerafabrik und darüber hinaus alles, was sie außerdem besessen hatte. Die Kamerafabrik wurde wenig später von der Firma Adox aus Frankfurt am Main übernommen. 

Ester und Henry Wirgin hielten sich nach ihrer Abschiebung aus Deutschland zunächst rund ein halbes Jahr in Polen auf. Im Jahr 1939 gelang ihnen die Ausreise in die Schweiz. Hier lebten sie zwei Jahre lang in La Chaux-de-Fonds und wahrscheinlich auch in Le Locle. Im Jahr 1941 mussten sie die Schweiz verlassen. Daraufhin gingen sie nach Spanien, von wo aus sie sich nach Cuba einschifften. Nach vorübergehendem Aufenthalt auf Cuba konnte die Familie in die USA einreisen. Dort lebte die ab 1943 fünfköpfige Familie in New York. In den USA nahm der Familienvater wahrscheinlich erneut eine Vornamensänderung vor: Aus Heinrich wurde Henry, wie er sich bis zu seinem Tod offiziell nennen sollte.

Nach dem 2. Weltkrieg beschloss Henry Wirgin, nach Wiesbaden zurückzukehren. Er wollte seine Kamerafabrik wieder übernehmen, was ihm auch tatsächlich gelang.

Von 1948 bis zum Konkurs im Jahr 1972 produzierte die Firma Wirgin am Firmensitz in der Dotzheimer Straße 172 Kameras. 

Henry Wirgin starb am 11. März 1989 in Wiesbaden. Seine Beisetzung erfolgte auf dem jüdischen Friedhof an der Platter Straße in Wiesbaden.

Dr. phil. habil. Stephanie Zibell